Early quantum chromodynamic quark model from the Ripley Scrowle, mid 15th century.
Early quantum chromodynamic quark model from the Ripley Scrowle, mid 15th century.
Metaphysische Träume in Gottes Villa Kunterbunt
Drei Anmerkungen zur Utopie einer Weltformel nach der Entdeckung des Higgs-Bosons
by Ulrich Kühne (Neue Zürcher Zeitung, ed. 14. July 2012, p.22)
Wenn das Higgs-Boson das „Gottesteilchen“ ist, dann hat Gott letzte Woche die vielleicht letzte große Chance vertan, das von uns fehlbaren Menschen mehr schlecht als recht zusammengeschusterte Standardmodell der Teilchenphysik zu widerlegen. Dass bei den Physikern „resignierte Erschöpfung“ bemerkbar sei, kommentierte denn auch Stephen Wolfram, der schon 1974 als 15-Jähriger wichtige Beiträge zum Standardmodell veröffentlicht hat, die Stimmung auf der Pressekonferenz im CERN-Forschungszentrum, wo der erfolgreiche Nachweis dieses letzten fehlenden, theoretisch vorhergesagten Bausteins des Universums bekannt gegeben wurde. Wie die meisten großen Theoretiker hätte Wolfram es lieber gesehen, wenn die Experimente in Genf etwas Neues und völlig Unerwartetes gezeigt hätten – etwas, das der Hoffnung neue Nahrung gegeben hätte, dass die Wahrheit über das Universum doch schöner und tiefsinniger ist, als das Standardmodell befürchten lässt.
Das Standardmodell besteht aus einem Sammelsurium von Ordnungsschemata, ziemlich willkürlichen Zahlenwerten und einer sehr komplizierten aber nicht besonders eleganten Mathematik, die den einzigen Vorteil hat, dass sich mit ihr die Phänomenologie der Elementarteilchen, also die von den Messgeräten in einem Teilchenbeschleuniger generierten Zahlenwerte, überraschend genau reproduzieren lässt. Einerseits besitzt das Standardmodell zwar genug Systematik, um ein fehlendes Higgs-Boson sofort als hässliche offene Baustelle zu erkennen, andererseits aber viel zu wenig innerer Logik, um auch die Masse des jetzt gefundenen Higgs-Boson anders als auf empirischen Weg bestimmen zu können. Wenn sich Metaphysiker das Haus der Physik gerne als strenge Pyramide oder als klassizistischen Tempel vorstellen, sieht das Standardmodell eher aus wie die Villa Kunterbunt von hanfrauchenden Hippies –die ja tatsächlich in den sechziger und siebziger Jahren auch maßgeblich an der Entwicklung des Standardmodells beteiligt waren.
Schon in den vergangenen 40 Jahren hat es sich nachträglich immer als Messfehler herausgestellt, wenn jemand glaubte, eine Abweichung vom Standardmodell beobachtet zu haben. Nach der erfolgreichen Entdeckung des Higgs-Bosons ist die Hoffnung, das Standardmodell durch eine komplett andere, mathematisch und philosophisch „schönere“ Teilchenphysik ersetzen zu können, perdu. Aber ist deshalb auch „Der Traum von der Einheit des Universums“, den der Nobelpreisträger Steven Weinberg in seinem gleichnamigen populären Sachbuch von 1993 so eindringlich und anschaulich beschrieben hat, ausgeträumt?
Die Genies unserer Zeit wie Wolfram oder Weinberg können jetzt nur noch hoffen, dass die tiefere philosophische Wahrheit gewissermaßen hinter dem Standardmodell versteckt ist, eine Wahrheit, die, sobald sie entdeckt ist, uns in die Lage versetzen wird, die hässlichen Versatzstücke des Standardmodells aus überzeugenden Ersten Prinzipien abzuleiten – also gewissermaßen auf ein nachträgliches Schönfärben des Standardmodells. Die zahlreichen ambitionierten Versuche zu diesem Zweck, die bisher bekannt geworden sind, haben noch keine überzeugenden (also auch empirisch brauchbaren) Ergebnisse gezeitigt. Aber auch abgesehen vom bisherigen Scheitern muss man das Projekt der Suche nach der „schönen“ Weltformel hinter dem Standardmodell mit drei Anmerkungen kritisieren –einer forschungspolitischen, einer wissenschaftshistorischen und einer wissenschaftstheoretischen –, bevor sich anschließend vielleicht doch noch ein vage optimistischer Ausblick formulieren lässt, dass trotzdem auch nach der Entdeckung des Higgs-Bosons noch „philosophisch schöne“ Weiterentwicklungen in der Teilchenphysik möglich sind.
[I. Forschungspolitische Anmerkung]
Wenn die Hoffnung berechtigt wäre, dass hinter dem Standardmodell eine tiefe philosophische Wahrheit zu entdecken ist, dann haben wir zumindest forschungspolitisch genau das Falsche gemacht, mit gewaltigem finanziellen Aufwand die experimentelle Teilchenphysik voranzutreiben. Weil wir seit letzter Woche die Masse des Higgs-Bosons empirisch kennen (126 GeV), wäre damit jetzt unsere Chance auf den größten Triumph des Geistes in der Menschheitsgeschichte ruiniert. Wenn nämlich nächstes Jahr ein neuer Einstein (oder Parmenides) eine Theorie vorstellt, warum das Higgs-Boson aus apriori-Gründen der Metaphysik genau die Masse von 126 GeV haben muss, dann wird sie vielleicht unberechtigterweise aber trotzdem unvermeidbar den faden Beigeschmack einer bloß post-hoc konstruierten Scheinerklärung haben. Wie viel großartiger wäre es gewesen, erst die Theorie zu haben und sie erst danach empirisch zu bestätigen – und auch viel preiswerter: Für die Kosten des CERN hätte man wohl ein Heer ambitionierter Denker mit neugeschaffenen Philosophieprofessuren ausstatten können, um so die Fortschritte der Metaphysik (wenn sie denn tatsächlich hinter dem Standardmodell der Entdeckung harren) massiv zu beschleunigen. Aber vielleicht vertrauen theoretische Physiker ihrer Philosophie und ihrem Sinn für theoretische "Schönheit" gar nicht so sehr, wie sie in ihren Sonntagsreden gerne behaupten.
[II. Wissenschaftshistorische Anmerkung]
Die Vorstellung von einer noch zu findenden singulären Weltformel ist auch eigentlich seit Beginn der modernen Naturwissenschaft um 1600 antiquiert. Will man die revolutionäre neuen Ideen von Galileo Galilei auf einen Kerngedanken reduzieren, liegt dieser gerade darin, nicht mehr nach der einen, umfassenden Theorie zu suchen, die die Phänomene wahrheitsgemäß abbildet, sondern nach einem Sammelsurium oder einen Werkzeugkasten von elementaren Gesetzes-Bausteinen, mit denen sich die Phänomene der Natur durch Zusammensetzung und Überlagerung in zunehmender Genauigkeit rekonstruieren lassen.
Der klassische erste Anwendungsfall war die Flugbahn einer Kanonenkugel: Für die Philosophen zu Galileis Zeit, die sich die Gesetze der Natur nur einfach und schön vorstellen konnten, war klar, dass dafür nur die beiden geometrisch elementaren Möglichkeiten „Kreissegment“ oder „gerade Linie“ in Frage kommt. Dummerweise hat die Natur dieser schönen Philosophie einen krummen Strich durch die Rechnung gemacht und erst Galilei konnte die empirisch korrekte Flugbahn mit einer für die damalige Zeit sehr komplizierten und nicht besonders eleganten Mathematik aus der Überlagerung der Einzelgesetze von Trägheit, Schwerkraft, Auftrieb und Luftreibung rekonstruieren. Diese Einzelgesetze stehen dabei völlig unverbunden nebeneinander und es macht gar keine Sinn, beispielsweise Schwerkraft und Luftreibung auf eine gemeinsame tiefere Wahrheit zu reduzieren, weil man für die erfolgreiche Berechnung von verschiedenen Flugbahnen unter unterschiedlichen Umweltbedingungen diese beiden kausal wirksamen Faktoren gerade getrennt vorliegend benötigt.
Das Erfolgsgeheimnis der modernen Naturwissenschaft liegt in der Separierung von kausal wirksamen Einzelfaktoren und nicht in der Vereinheitlichung zu einem großen Ganzen. Tatsächlich gab es vereinheitlichte Theorien vor Galilei, in der Naturphilosophie der Antike. Aristoteles hatte die Bewegung von Körpern in einer natürlichen Umgebung, in der es Luftreibung und Schwerkraft gibt, noch mit einer einheitlichen Theorie beschrieben, die halt nur empirisch ziemlich unbrauchbar war.
Historisch gesehen erscheint die scheinbare Hässlichkeit des heutigen Standardmodells ebenso wie ihre empirischen Erfolge wie ein später Triumph von Galileis Wissenschaftsmethode, und im Gegensatz dazu die großen Einheitsgedanken beispielsweise von Carl Friedrich von Weizsäcker, dessen hunderstes Geburtstagsjubiläum gerade gefeiert wurde, wie ein Rückschritt auf vor-Galileische Ideale der antiken Naturphilosophie.
[III. Wissenschaftstheoretische Anmerkung]
Der Erfolg von Galileis Methode bedeutet natürlich nicht, dass sie die einzige erfolgreiche Art von Wissenschaft bleiben muss. Insbesondere Albert Einstein hat zeitlebens behauptet, dass es neben den „Konstruktiven Theorien“ nach dem Vorbild von Galilei eine zweite, grundsätzlich verschiedene Art von Theorien gäbe, die er „Prinzipientheorien“ nannte. Sein Paradebeispiel hierfür war die Thermodynamik in der Ausformung durch Josiah Willard Gibbs (1902), die Einstein für nichts anderes hielt als „die systematische Beantwortung der Frage: Wie müssen die Naturgesetze beschaffen sein, damit es unmöglich sei ein perpetuum mobile zu konstruieren?“
Einstein war also überzeugt, dass ein Physiker mit einer elementaren, quasi-philosophischen Einsicht wie „Aus Nichts kommt nichts“ beginnen könne, hieraus einige allgemeingültige Prinzipien formuliert, also zum Beispiel, dass es prinzipiell unmöglich sei, eine Maschine zu konstruieren, die mehr Energie liefert als sie verbraucht, um dann anschließend nach einigen komplizierten theoretischen Überlegungen bei einer Theorie zu landen, die quantitative Aussagen über empirisch messbare Größen wie Temperatur und Druck macht. Seine eigenen Relativitätstheorien hat Einstein in diesem Sinne als Prinzipientheorien verstanden, die aus dem „Relativitätsprinzip“ und dem „Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit“ abgeleitet seien.
Es ist unschwer zu erkennen, dass auch Wolfram, Weinberg oder Weizsäcker an eine Prinzipientheorie denken, wenn sie eine ultimative Theorie hinter dem Standardmodell vermuten, sie ihre Herausforderung also darin sehen, das wahre Prinzip zu suchen, das das Potential besitzt, die verwirrende Phänomenologie des Standardmodells quasi aus einem einzigen Grundgedanken abzuleiten.
Aber auch wenn die Idee von Einstein stammt ist hier Skepsis angebracht: Die Absicht mit den Prinzipientheorien ähnelt sehr den philosophischen Taschenspielertricks eines Descartes, der aus der einen kleinen Wahrheit „Ich denke, also bin ich“ einen ganzen Kosmos von Schlussfolgerungen herausgezaubert hat. Doch schon ein grober Vergleich des Informationsgehalts zeigt, dass da etwas nicht stimmen kann. Eine empirische Theorie, die etwas taugt, muss reich an Informationsgehalt sein, der in einem einfachen Satz, durch den eine große philosophische Idee formuliert ist, gar nicht enthalten sein kann. Gewissermaßen verdirbt uns gerade das Verbot des Perpetuum mobiles oder die Einsicht „Von Nichts kommt nichts“ die schönsten Träume von einer ultimativen Weltformel.
Hierdurch werden einige naive Vorstellungen, mit einer pyramidenförmigen Hierarchie des Wissens die Welt zu erklären, in enge Schranken verwiesen. Das besondere Interesse an der Elementarteilchenphysik gründet sich ja gerade auf dieser Idee: dass Alles letztendlich aus Elementarteilchen besteht und deshalb die genaue Kenntnis der Gesetze im mikroskopisch Kleinen uns auch die größeren Aggregate der Materie besser verständlich macht - die Atomkerne und Atome, die chemischen Moleküle, die lebenden Organismen, das menschliche Gehirn und zu guter Letzt auch unsere Kultur und Zivilisation.
Tatsächlich verläuft die Begründungsrichtung zwischen zwei Hierarchieebenen in der Regel genau umgekehrt – wie auch im aktuellen Fall: Alles was man mit dem Higgs-Mechanismus erklären kann, zum Beispiel die Massen der Quarks und Leptonen, war vorher schon längst empirisch bekannt, bevor jetzt nachträglich auch das Higgs-Boson gefunden wurde.
Es gibt allerdings seltene Ausnahmen – in der ganzen Wissenschaftsgeschichte vielleicht nur ein Dutzend guter Beispiele –, wo die mathematische oder philosophische Fundierung eines Phänomenbereichs zu neuen und völlig überraschenden Erkenntnissen geführt hat. [James Clerk] Maxwells Herleitung der elektromagnetischen Wellen durch die Vereinigung der Gesetze von Elektrizität und Magnetismus gehört sicherlich dazu. Und [Paul A. M.] Diracs Ableitung der Existenz von Antimaterie als überraschendes Nebenprodukt seines Versuchs, die Schrödingergleichung mit der speziellen Relativitätstheorie mathematisch zu vereinigen. Ohne das philosophische Streben nach Einheit hätten wir heute vielleicht weder Radiowellen noch Antimaterie entdeckt.
Was uns diese besonderen Fälle über Metaphysik und den Traum von der Einheit des Universums sagen können, ist wissenschaftsphilosophisch noch wenig erforscht. Das Kuriose an ihnen ist, dass sie den Eindruck erwecken, dass der Taschenspielertrick manchmal doch funktioniert: wie man durch bloß eine neue Idee einen Kontinent voll vorher unbekannter empirischer Tatsachen gewinnt. Aber der Erfolg unseres angegrauten Standardmodells bei der Vorhersage des Higgs-Bosons macht die Entdeckung eines solchen neuen Kontinents mit einer schönen Universaltheorie nicht gerade wahrscheinlicher. Ulrich Kühne