Pic from: Hiroshi Nishimasu, F. Ann Ran, Silvana Konermann et al., "Crystal S...
Pic from: Hiroshi Nishimasu, F. Ann Ran, Silvana Konermann et al., "Crystal Structure of Cas9 in Complex with Guide RNA and Target DNA", Cell 156, No. 5, 27 February 2014, pp 935–949, doi:10.1016/j.cell.2014.02.001
Nachtmonolog eines mechanischen Wurms
Jetzt bitte keine Panik: Christiane Nüsslein-Volhard kennt die Geheimnisse des Lebens
by Ulrich Kühne, Süddeutsche Zeitung, 22. März 2004, Literaturbeilage S. 25.
Nach der Geburt, meinte Plinius der Ältere, sind Bärenkinder formlose weiße Fleischklumpen, nur wenig größer als Mäuse, einzig die Krallen sind schon ausgebildet. Die Mutter leckt sie dann in die richtige Form. Wie lebende Materie ihre natürliche Gestalt ausbildet, aus dem amorphen Zellklumpen einer Eizelle ein in funktionsfähige Gliedmaßen und Organe strukturiertes Lebewesen entstehen, gehört zu den Rätseln, die schon manchen skeptischen Philosophen in den Glauben an die Existenz eines planvollen Schöpfers getrieben haben. Und wenn kein allmächtiger Gott, so doch zumindest die Zunge der Bärenmutter. Dass die Formen des Lebens durch blinde Mechanik entstehen könnten, scheint von vornherein ausgeschlossen.
Für ihren Anteil an der Entdeckung eines solchen rein biochemischen Mechanismus wurde Christiane Nüsslein-Volhard 1995 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. 2001 wurde sie in den Nationalen Ethikrat berufen. Erst jetzt wendet sie sich mit Büchern an die Öffentlichkeit, gleich zwei auf einmal, einem kleinen Reclam-Heftchen, das aus einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe hervorgegangen ist, und einem dickeren bei Beck, dessen Überschneidungen vermuten lassen, dass es aus dem Reclam-Band hervorgegangen ist. Pure Lust am Schreiben dürfte mithin als Motiv für den Doppelschlag ausscheiden.
Beide Bände behandeln in schmuckloser Sprache aber angenehmer Klarheit, was man heute über die Biochemie des Lebens weiß. Für die Tugend der Unaufgeregtheit ist Nüsslein-Volhard bereit, jede Pointe zu opfern, sogar die Erwähnung ihres eigenen Anteil an der Entdeckung der dargebotenen Fakten. Was sie sagen möchte, ist so sachlich, fundiert und wahr, dass sich der Leser schon nach wenigen Seiten nach dem Schlusskapitel sehnt, das von den Kontroversen der Bioethik handelt. Aber auch dort wird keine Spannung, keine geisteswissenschaftliche Verunreinigung der Wahrheit zugelassen. Immerhin zitiert sie Goethe, und einmal spürt man sogar einen Anflug von Emotion. „Es ist zum Schaudern!“, bemerkt sie über die biotechnische Zukunftsvision aus „Brave New World“ von Aldous Huxley, „Obendrein ist gefährlich, dass es nicht wenige Menschen gibt, die das für bare Münze nehmen (für jetzt oder in absehbarer Zukunft).“
In den Vorworten hatte Nüsslein-Volhard angekündigt, zur Versachlichung der öffentlichen Debatten über Stammzellen und Embryonenforschung beitragen zu wollen, aber am Schluss, scheint es, hat ihr Bedürfnis, sich aus allen Streitereien herauszuhalten, obsiegt. „Denn bei Schutzwürdigkeit handelt es sich ja nicht um eine Eigenschaft, die man mit biologischen Methoden nachweisen könnte, sondern um eine Norm, die aufgrund gesellschaftlicher Anerkennung gilt“, heißt es in beiden Büchern.
Man muss es als eine Strategie begreifen, und vielleicht hat Nüsslein-Volhard damit Erfolg: Konfliktbeseitigung durch Einschläferung aller Halbgebildeten, die sich sonst zur Störung der normalen wissenschaftlichen Arbeit berufen fühlen. In diesem Sinn muss man die Methode ihrer Wissensvermittlung in den Hauptteilen der beiden Bücher als Meisterwerk bewundern. Noch die unglaublichste Entdeckung der jüngsten molekularbiologischen Forschung weiß sie in solcher Kürze, Stringenz und Beiläufigkeit zu erwähnen, dass Laien gar nicht erst in Versuchung geraten, über mögliche Verträglichkeitsprobleme mit dem traditionellen Selbstbild als moralisches und metaphysisches Lebewesen nachzudenken, um anschließend mit unerhörter Ausführlichkeit die wenigen verbliebenen Probleme, technischen Schwierigkeiten und prinzipiellen Grenzen in einer Weise zu betonen, dass jede Angst vor einer Machtergreifung der biochemisch-mechanistischen Welt verschwindet.
Beispielsweise die sehr niedrige Erfolgsrate beim Klonen. Dass sich in den bisherigen Experimenten bestenfalls einer von 300 geklonten Embryonen zu einem lebensfähigen Tier entwickelt hat (und das Verfahren schon deshalb für Menschen nicht in Betracht kommt), schreibt Nüsslein-Volhard, „liegt nicht daran, dass man das Verfahren nicht genügend erprobt hat, sondern am Widerstand der Natur: Es ist in hohem Grade unnatürlich.“ Das klingt beruhigend. Tatsächlich aber meint Nüsslein-Volhard mit „unnatürlich“ nur dies: In ausdifferenzierten Körperzellen ist der biochemische Mechanismus, der Keimbahnzellen vor Mutationen schützt, weitgehend ausgeschaltet. Wenn man also statt Ei und Spermium eine beliebige Körperzelle zur Herstellung eines Embryos heranzieht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser Embryo mit einer tödlichen Mutation behaftet ist. Man sollte aber bedenken, dass schon die kleinste Hautabschürfung mehr als 300 Körperzellen enthält, und dass kein Naturgesetz die Möglichkeit ausschließt, zukünftig schon vor der Erzeugung des Embryos die wenigen in allen lebenswichtigen Teilen unmutierten Zellen aus dieser Menge herauszusieben und somit die Erfolgsrate beim Klonen drastisch zu erhöhen.
Wer als Laie die ungeschönte Wahrheit erfahren will, muss sich durch das „Standardwerk“ (Nüsslein-Volhard) hindurchbeißen, den „Alberts“, der gerade in einer umfassend aktualisierten Neuauflage aufgelegt wurde – ein Monument, Vorbild der didaktischen Aufbereitung von Lehrstoff, schwierig nur durch die Menge des Inhalts, nicht seine Komplexität. Im unvorbereiteten Leser muss es das blanke Entsetzen auslösen: Die Rätsel des Lebens sind im wesentlichen gelöst. In allen Teilbereichen der Biochemie zeichnet sich das Ende ab: die vollständige Kenntnis aller Bestandteile und Gesetze von kohlenwasserstoffbasierten Lebensformen durch bloße Anwendung der bekannten Methoden, die umfassende Reproduktion der Phänomenologie durch Theorie, die mit strengen Ableitungsbeziehungen eingebettet ist in den Korpus der Wissenschaften von der Quantenmechanik bis zur Paläontologie.
Vor fünf Jahren wurde das Genom des ersten mehrzelligen Organismus, des unscheinbaren Würmchens C. elegans, entschlüsselt. Man fand ein Lebewesen wie ein kompliziertes mechanisches Uhrwerk, in jedem Entwicklungsschritt seiner exakt 959 Körperzellen von den chemischen Reaktionen seiner 18 000 Gene gesteuert. Der Laie mag sich beruhigen angesichts der Millionen Tier- und Pflanzenarten und der Jahrzehnte, die sich die Wissenschaft mit diesem Würmchen beschäftigt hat. Die Natur aber ist einfach, selbst der Mensch hat nur 25 000 Gene, darunter fast sämtliche des Wurms.
Beiläufig endet das „ignorabimus!“ der bisherigen Philosophiegeschichte; niemand hatte es je gewagt, sich Leben in so einfacher Mechanik auszumalen, wie sie jetzt gefunden wurde. Bald wird die fünfte Auflage des „Alberts“ erscheinen. Das war es dann. Kein Geist in der Maschine, nur die Maschine. Bis dahin wird Christiane Nüsslein-Volhard denen, die es wollen, ein paar Jahre Seelenfrieden geschenkt haben.
CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD: Von Genen und Embryonen. Reclam Verlag, Stuttgart 2004. 72 Seiten, 2,40 Euro.
CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD: Das Werden des Lebens. Wie Gene die Entwicklung steuern. C.H. Beck Verlag, München 2004. 210 Seiten, 19,90 Euro.
BRUCE ALBERTS u. a.: Molekularbiologie der Zelle. Deutsch v. Lothar Jaenicke u. a.. Wiley-VCH, Weinheim 2004. 4. Aufl., 1863 S. u. 1 CD-ROM, 109 Euro (5. Auf. 2011).